Hochbegabt? Ich doch nicht! …?

Erwachsene Musikerinnen und Musiker entdecken ihre Hochbegabung.

Vorwort:

An der Hochschule für Musik und Tanz Köln haben die Studierenden die Möglichkeit bei mir ein Coaching in Anspruch zu nehmen.

Bei dieser Tätigkeit lernte ich angehende Berufs-Musikerinnen und -Musiker kennen, die mir durch ihre Verletzlichkeit, aber auch durch ihren Ehrgeiz, der oft mit starken Selbstzweifeln gepaart war, auffielen. Ich hegte die Vermutung, dass diese, aber auch andere sehr spezifische Verhaltens- und Denkweisen mit „Hochbegabung” zu tun haben könnten. Bei meinen Recherchen stieß ich auf das Phänomen der „hochbegabten Erwachsenen”, welches im Bewusstsein der Öffentlichkeit noch wenig präsent ist. Fasziniert von der Problematik, absolvierte ich eine Ausbildung zum Psychosozialen Coach mit dem Schwerpunkt „Hochbegabung und Hochsensibilität bei Erwachsenen” und arbeite im Besonderen mit Musikerinnen und Musikern, inzwischen aber auch mit Menschen in anderen Berufen.

Hochbegabung bei Erwachsenen:

Viele berühmte Musikerinnen und Musiker hatten das Glück, dass ihre Begabung in der Regel früh erkannt und entsprechend gefördert wurde. Sie können ihr Potential meistens zuverlässig abrufen und in Bezug auf sich selbst angemessen ausleben.

Leider gibt es aber auch viele musikalisch Hochbegabte, deren Talent nicht entdeckt bzw. nicht ausreichend gefördert wurde. Bei anderen wurde ihre hohe Begabung zwar erkannt und auch im Kindesalter entsprechend gefördert, sie gerieten aber im Erwachsenenalter in berufliche (z.B. Bühnenangst, Langeweile, Spielprobleme) oder private Schwierigkeiten. Später werde ich dazu einige Beispiele aus meiner Berufspraxis nennen.

Welche Konsequenzen haben diese Defizite für diese Menschen? Können sie auch in späteren Jahren noch ausgeglichen werden?

Um diese Frage besser beantworten zu können möchte ich zunächst verschiedene Begriffe, die im Zusammenhang mit Hochbegabung stehen, erläutern. 

Üblicherweise wird Hochbegabung durch Intelligenztests festgestellt.  „Intelligenz” ist zwar ein in der Umgangssprache geläufiger Begriff, aber schwer zu definieren, da sie keine direkt beobachtbare Größe, sondern ein theoretisches Konstrukt darstellt. Die Schwierigkeit der Definition kann man auch an der Vielzahl der existierenden Intelligenzmodelle ablesen. Es gibt keine von allen Psychologen gemeinsam geteilte, eindeutige Definition von Intelligenz. Manche Wissenschaftler gehen von einer allgemeinen Intelligenz aus, die bei verschiedenen Menschen verschieden stark ausgeprägt ist, andere beschreiben verschiedene Intelligenzen. 

Eine der jüngsten Theorien ist die von Howard Gardner. 
Er spricht von multiplen Intelligenzen und zählt dazu die logisch-mathematische, räumliche, körperlich-kinästhetische, musikalische, die naturalistische (im Sinne naturwissenschaftlichen Verständnisses), interpersonale und intra-personale Intelligenz.  

Die fehlende Präzision des Begriffes macht es schwer, Intelligenz eindeutig zu messen.

Je nach Test (z.B. Hawik-III, K-ABC, AID, IST) werden sehr verschiedene geistige Fähigkeiten gemessen: sprachliche Fähigkeiten, Wortschatz und sprachlogisches Denken; praktisch-logisches Denken; rechnerisches Denken, abstrakt-logisches und theoretisches Denken; räumliches Vorstellungsvermögen, sowie visuelles Auffassen und Kombinieren; Konzentration, Gedächtnis und Arbeitstempo. 

Die Aussagefähigkeit von IQ-Tests (1) ist allerdings umstritten, da sie viele Begabungsbereiche nicht testen (können), wie z.B. kreative, künstlerische oder sportliche Intelligenz. Außerdem kann es vorkommen, dass ein und derselbe Mensch in einem IQ-Test als hochbegabt und in einem anderen als nicht hochbegabt getestet wurde. Wer sich trotzdem selbst testen möchte, findet im Internet dafür verschiedene Angebote (2).

Noch schwieriger wird es, wenn man die musikalische Begabung durch einen Test messen möchte. 
Die existierenden Tests (z.B. die von Seashore, Wing oder der Wiener Test für Musikalität) beschäftigen sich ausschließlich mit der Musikalität von Kindern. Nur ein Test von Gordon (Musical Aptitude Profile) schließt junge Menschen bis zum 18. Lebensjahr mit ein.

Von Hochbegabung spricht man, wenn eine Person in einem oder mehreren Bereichen über geistige Fähigkeiten verfügt (nach Gardner auch darüber hinaus gehende), die in ihrer Ausprägung extrem weit über dem Durchschnitt ihrer Altersgenossen liegen.  

2-3% der Bevölkerung in Deutschland weisen einen IQ von 130 Punkten und mehr auf und zählen damit zu den „Hochbegabten”.  

Etwa 68% verfügen über einen IQ zwischen 90 und 110 Punkten, also eine durchschnittliche Intelligenz. Ab einem IQ von 120 findet man bereits beachtliche Fähigkeiten vor.

Vor einigen Jahren gab es einen neuen Impuls, kam eine neue Sichtweise in die Begabungsforschung: Der Münchner Psychologe Dr. Jürgen vom Scheidt (3) und  Andrea Brackmann (4) legen ihr Hauptaugenmerk auf Erwachsene, die hochbegabt sind, aber eine frühe Förderung nicht genießen konnten. 

Andrea Brackmann (5) definiert „Hochbegabung” vereinfacht gesagt als ein Mehr von allem: mehr denken, mehr fühlen und mehr wahrnehmen

Aber nicht nur mit Intelligenztests (die, wie schon erwähnt, in der Regel ausschließlich intellektuelle Fähigkeiten bewerten) kann eine Hochbegabung festgestellt werden, sondern auch durch die Analyse von biographischen Fakten und durch das Erfassen bestimmter Merkmale, die für hochtalentierte Erwachsene typisch sind. Frau Brackmann vermutet, dass „…hohe Intelligenz möglicherweise nur ein Teilaspekt dessen ist, was wir als Hochbegabung wahrnehmen und dem ein komplexeres Persönlichkeitsgefüge zugrunde liegt.“ (6)

Sie geht davon aus, dass Hochbegabte Reize aller Art (also auch Sinnesreize und emotionale Reize) intensiver und komplexer verarbeiten als andere Menschen.

So geht sehr häufig mit einer Hochbegabung auch eine Hochsensibilität bzw. Hochsensitivität einher.

Diese besonders sensiblen Menschen nehmen Feinheiten in ihrer Umgebung – seien es sinnliche oder emotionale Informationen – sehr detailliert wahr und reagieren darauf besonders empfindsam. 

Hochsensible können die Befindlichkeiten, Stimmungen und Emotionen anderer Menschen leicht und differenziert erkennen, sind aber andererseits durch deren Stimmungen auch leicht zu beeindrucken. Erlebtes hat bei ihnen häufig einen langen emotionalen “Nachklang”.

Sensibel Begabte sind häufig intuitiv und kreativ veranlagt, aber auch sehr perfektionistisch.

Da die Aufnahmeintensität von Informationen bei diesen Menschen höher ist als bei anderen, brauchen sie mehr Zeit und Ruhe ihre vielfältigen Eindrücke zu verarbeiten.

Als erste Wissenschaftlerin hat sich die amerikanische Psychologin Elaine N. Aron in verschiedenen Publikationen mit dem Thema der Hochsensibilität beschäftigt. (7)

Im Folgenden nun eine Auflistung sehr unterschiedlicher Merkmale, die für Hochbegabte typisch sind:

  • rasches Erfassen komplexer Zusammenhänge
  • hohe Auffassungsgabe, schnelles Denken, manchmal auch hohes Sprechtempo 
  • Finden neuer Gedankenverbindungen und Ideen 
  • kreative künstlerische Potentiale
  • Anstellen weitreichender Überlegungen
  • ausführliches Reflektieren (Berücksichtigung zahlreicher Aspekte) und damit einhergehend auch manchmal Schwierigkeiten bei der Meinungsbildung bzw. Entscheidungsfindung
  • Vorauseilendes Denken (z.B. bevor das Gegenüber zu Ende gesprochen hat, kommt schon die Antwort)
  • Ungeduld und Langeweile, manchmal auch Konzentrationsmängel bei monotonen bzw. unterfordernden Aufgaben
  • Überhöhtes Streben nach Perfektion, überhöhte Selbstansprüche, oft gepaart mit Selbstzweifel und Selbstkritik             
  • Widerstand gegen Alltagsroutine
  • das Gefühl des „Anders-Seins”
  • starke Emotionen
  • starker Gerechtigkeitssinn
  • hohes Einfühlungsvermögen und Mitgefühl
  • Überempfindlichkeit und Dünnhäutigkeit
  • Gefühlsausbrüche und Stimmungsschwankungen
  • Misserfolge und Unangenehmes werden schwer verarbeitet

Wenn man diese Kriterien betrachtet, wird deutlich, dass es auch hochbegabte Menschen geben kann, die man bisher nicht auf den ersten Blick als solche identifiziert hat. 

Denn nicht in jedem Fall bedeutet Hochbegabung auch Hochleistung! 

Diese Tatsache ist für das Verständnis von (erwachsenen) Hochbegabten von grundlegender Bedeutung. In der Literatur über hochbegabte Erwachsene findet man folgende Unterscheidung, die den Grad des Erkennens und des Auslebens der Begabung beschreibt: Man unterscheidet TalenteLatente und Underachiever. (8)

Talente sind Personen, die aufgrund ihrer herausragenden Begabung einen enormen äußeren Erfolg haben. Dazu zählen die oben erwähnten “berühmten Musiker”, die jedermann kennt und wo keiner einen Zweifel hegt, dass dieser Mensch sehr begabt ist. 

Latente sind die Menschen, die ihre Hochbegabung dazu nutzen, gut durch das Leben zu kommen, hier und dort Erfolge erzielen, ohne sich dafür sehr anstrengen zu müssen und damit eventuell auch zufrieden sind. Aber viele von Ihnen sind vermutlich nicht zufrieden mit ihrem Leben, weil sie ahnen, dass mehr in ihnen steckt als sie ausleben.

Aufgrund frühkindlicher Traumatisierung oder anderer negativer Einflüsse können diese nicht genutzten Fähigkeiten aber nicht zum Vorschein kommen.

Bei den so genannten Underachievern (im Deutschen werden sie leider „Minderleister” genannt) ist eine regelrecht paradoxe Situation entstanden: obwohl sie hochbegabt sind (ihre hohe Begabung aber nicht erkannt bzw. gefördert wurde oder sie auf Grund schlechter Erfahrungen in  der Schule die Leistung verweigerten), werden sie auf  eine Förder- oder auf eine Hauptschule geschickt, werden sozial ausgegrenzt oder  entwickeln sich zum „Klassenclown” etc.. 

Was ist der Grund dafür, dass Hochbegabung häufig nicht entdeckt wurde?

In der Schule wurden und werden wenige bzw. keine Intelligenztests durchgeführt. Überhaupt war das Thema „Hochbegabung” (9) in der Öffentlichkeit bis vor ca. 25 Jahren kaum präsent. Auch die wenigsten Lehrer waren dafür sensibilisiert. Und selbst wenn ein Schüler einen IQ-Test bei einem Psychologen durchführen ließ und dabei über- durchschnittliche Punktezahlen erreichte, kam es selten zu entsprechenden Fördermaß-nahmen.  Jürgen vom Scheidt (10) meint dazu: „Die Umwelt ist ein ganz entscheidender Einflussfaktor, der entweder bremsen oder beschleunigen kann” […] Das Erbgut bestimmt die intellektuellen Fähigkeiten nur zur Hälfte”. Aus dieser Sicht ist Hochbegabung ein Potential, welches entdeckt und gefördert werden muss, damit es sichtbar werden kann.

Für die Betroffenen ergibt sich häufig das Problem, dass sie ihre überdurchschnittliche Begabung nicht immer als etwas Positives erleben. Sie werden manchmal als Außenseiter betrachtet und empfinden sich häufig auch selbst als „fremd in der Welt”, das heißt sie haben das Gefühl zu empfindlich, zu schwierig, zu anspruchsvoll, zu kompliziert, oder zu labil zu sein. Sie fühlen sich oft von ihrer Umgebung missverstanden und allein gelassen. 

Bei monotonen Aufgaben leiden sie unter Unkonzentriertheit und auf Unterforderung reagieren sie häufig mit Ungeduld und Langeweile (inzwischen gibt es für Letzteres einen psychologischen Fachterminus: „Boreout”). Vor allem im Beruf machen ihnen überhöhte Ansprüche an sich selbst und der ständige Wunsch nach Perfektion zu schaffen.  Dies wiederum führt nicht selten zu nagenden Selbstzweifeln und harscher Selbstkritik. Bei Musikerinnen und Musikern machen sich die eben beschriebenen Aspekte besonders deutlich bemerkbar, da sie sozusagen „von Berufs wegen” einem hohen Perfektionsanspruch unterliegen.

Wie sich eine zunächst nicht erkannte Hochbegabung im Musiker-Alltag zeigen kann und wie die Betroffenen nach einer fachlichen Beratung damit umgegangen sind, beleuchten die nun folgenden Beispiele:

Eine junge Frau hat ein hervorragendes Abitur abgelegt. Sie beginnt ein Studium der Literaturwissenschaften. Nach kurzer Zeit bricht sie dieses Studium ab und beginnt eine Gesangsausbildung. Als Kind sang sie bereits in Kinderchören und übernahm dort schon früh solistische Aufgaben. Sie spürte damals den Neid vor allem auch der älteren Kinder, worunter sie sehr litt. Im Coaching wurde deutlich, dass diese Angst vor Neid auch jetzt noch eine große Rolle spielt und sie sehr behindert, weil sie zum Selbstschutz ihre wahren Fähigkeiten verbirgt. 

Im Studium entwickelt sie Probleme mit der Intonation. Ihr Hauptfachprofessor ermöglicht ihr deswegen nicht, die von ihr gewünschten anspruchsvolleren Partien zu studieren. Durch Beratung wurde ihr bewusst, dass es für sie sehr wichtig ist, ihre hohe Begabung anzunehmen und auch nach außen zu ihr zu stehen. Nach der Aufarbeitung verschiedener behindernder Emotionen und Glaubenssätze, nahm sie einen Lehrerwechsel vor und erhielt so die Möglichkeit höhere Herausforderungen zu meistern, wodurch ihre Intonationsprobleme allmählich verschwanden.

Eine Konzertmeisterin entwickelt im Lauf des Orchesterdienstes starkes Bogenzittern, allerdings nicht bei solistischem Spiel. Als Jugendliche galt sie als hochbegabt, wurde von namhaften Lehrern ausgebildet und studierte unter anderem auch in den USA. Als 40jährige steht sie nun vor der Frage, wie sie mit dem geschilderten Problem umgeht. Da sie nicht ins Tutti wechseln möchte und Probespiele auf Grund des Alters nicht mehr möglich sind, ebenso wie eine solistische Karriere, entscheidet sie sich zu einem Berufswechsel. Da sie auch immer schon sehr an psychologischen Fragestellungen interessiert war, beginnt sie eine Ausbildung zur Psychotherapeutin. Dies ermöglicht ihr, auch andere in ihr angelegte Begabungsanteile zu entfalten. Inzwischen arbeitet sie schon einige Jahre in ihrem neuen Beruf und genießt die dadurch gewonnene Eigenständigkeit und Unabhängigkeit.

Eine Gesangstudentin (Sopranistin) hatte Schwierigkeiten mit ihrer Höhe. Es stellte sich heraus, dass sie unsicher geworden war, ob sie das richtige Studium gewählt hatte. Sie schwankte zwischen einem Musik- und einem Physikstudium (Sie hatte ein sehr gutes Abitur abgelegt und war auch naturwissenschaftlich sehr begabt). Erschwerend kam hinzu, dass ihr familiärer Rückhalt schwankte: die Familie sah in dem akademischen Beruf bessere Verdienstmöglichkeiten. Nachdem sie sich durch die Beratung dieser Zusammenhänge bewusst geworden war, entschied sich die Studentin erneut ganz bewusst für das Musikstudium und errang im Anschluss daran bei einem Wettbewerb einen sehr guten Platz.

Ein Sänger, der lange eine feste Stelle an einem Opernhaus innehatte, entschied sich für die freiberufliche Tätigkeit und entwickelt plötzlich (vorher nicht gekanntes) Lampenfieber vor einem Vorsingen an einer kleineren Bühne. Er stammt aus einem Musiker-Elternhaus, zeigte früh eine hohe musikalische Begabung und absolvierte außer dem Gesang- auch noch ein Klavierstudium. Trotz der deutlichen Hochbegabung, reagierte er zunächst mit großer Überraschung auf meine Frage, ob er sich mit dem Gedanken, hochbegabt zu sein, anfreunden könne. Nach kurzem Nachdenken war das für ihn unproblematisch. Noch wichtiger war ihm allerdings die Idee, hochsensibel zu sein. Viele eigene Empfindungen und Verhaltensweisen wurden ihm damit im Nachhinein verständlich.

Im Coaching wurde ihm bewusst, dass er die angebotene Stelle als nicht seinem Niveau gemäß empfindet. Er entschied sich gegen das Vorsingen und lernte daraus, dass bei ihm Lampenfieber ein Zeichen für mangelnde Motivation bedeuten kann. In Zukunft will er sich nur noch auf Stellen bewerben, die ihm angemessen erscheinen. 

Diese Beispiele aus meiner Praxis sind nur ein Ausschnitt aus der Vielzahl der Probleme, die sich durch eine nicht erkannte Hochbegabung ergeben können.

Es ist auffallend, dass besonders viele Menschen, die herausragende intellektuelle, aber auch emotional-sensitive Fähigkeiten besitzen, ein Instrument spielen oder singen. So gibt es viele Ärzte, Physiker, Juristen, Apotheker etc. die in ihrer Freizeit – oft auf äußerst hohem Niveau – musizieren und manchmal sogar zusätzlich noch ein Musikstudium absolviert haben. Viele, die sowohl Medizin als auch Musik studiert haben, arbeiten heute in einer Kombination beider Berufe: als Musikermediziner.

Warum zieht es so viele begabte Menschen zur Musik?

Meiner Beobachtung nach finden sich besonders viele  Hochtalentierte unter Profi- wie auch ambitionierten Laienmusikern, weil das Musizieren eine äußerst komplexe ganzheitliche Tätigkeit darstellt und damit den vielfältigen intellektuellen und sinnlich-kreativen Bedürfnissen von besonders begabten Menschen Rechnung trägt und eine ständige Herausforderung bedeutet. 

Eine besondere Problematik ergibt sich manchmal beim Erlernen eines Instrumentes bzw. bei der Ausbildung der Stimme. Die Lernpsychologie unterscheidet zwischen dem Lernen von Fakten (deklaratives Lernen) und dem Üben von Fertigkeiten (prozedurales Lernen). Hochbegabte machen in der Regel die Erfahrung, dass sie sich Fakten schnell und leicht merken. Beim prozeduralen Lernen stellt sich das Empfinden von „leichtem” Lernen nicht mehr so einfach ein. So müssen manche besonders begabte Musiker mühsam lernen, dass die körperlich-motorische Seite des Instrumentalspiels bzw. des Singens auch von ihnen Geduld und Ausdauer abverlangt.

Wie ein erwachsener Musiker mit einer spät erkannten Hochbegabung / Hochsensibilität umgeht ist sehr unterschiedlich.  

Für manche ist diese Erkenntnis ein Schock, andere tun sogar alles, damit ihre Umgebung nichts davon erfährt, weil sie z.B. Angst vor dem Neid der Menschen in ihrer Umgebung haben. Andrea Brackmann erzählt (11): „Ich habe das Testergebnis beruflich und privat vier Jahre lang geheim gehalten. Besonders vor der Reaktion der Kollegen habe ich mich gefürchtet. Würden sie jetzt denken: ‚Die hält sich wohl für was Besonderes?‘ Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass ich zu diesen drei Prozent gehören soll, die besondere intellektuelle Fähigkeiten haben. Ich habe dem Testergebnis misstraut. Manchmal zweifele ich heute noch daran.”

Die Reaktion von Frau Brackmann ist typisch. Die meisten Hochbegabten wären froh, wenn ihr Wesen nicht mit dem oft elitär gemeinten Begriff der „Hochbegabung” bezeichnet würde.

Aus der Sicht der über Hochbegabung in der Regel wenig informierten Bevölkerung, sind Hochbegabte etwas „Hervorgehobenes”, leisten vermeintlich immer Herausragendes und werden somit auf einen Sockel gestellt. Das erklärt vielleicht auch, dass die meisten meiner Klientinnen und Klienten sich zunächst gegen die Vorstellung hochbegabt zu sein sträuben und mit dem Ausruf reagieren „Ich doch nicht!“. Damit schützen sie sich vor zu hohen Erwartungen.

Für die Hochbegabten selbst ist ihre besondere Begabung etwas ganz Natürliches, mit der sie auf die Welt gekommen sind und alltäglich umgehen, ohne sich dessen ständig oder überhaupt bewusst zu sein. Hochbegabt zu sein, bedeutet nicht automatisch ein erfolgreiches und einfaches Leben zu führen. Im Gegenteil, vor allem wenn die eigene Begabung nicht erkannt oder ausreichend gefördert wurde, fühlen sich die Betroffenen manchmal viele Jahre oder sogar Jahrzehnte unwohl in ihrer Haut, glauben, etwas stimme nicht mit ihnen oder fühlen sie sich nicht dazu gehörig.

Wird die Begabung dann erkannt, entsteht häufig zunächst tiefe Trauer oder auch Wut über die verpassten Chancen im Leben. Wenn man aber zu seinen Fähigkeiten steht, die bis dahin ungenutzten Potentiale kennen und nutzen lernt, können sich neue Möglichkeiten eröffnen, im privaten, wie auch im beruflichen Bereich.  Dies ist in jedem Alter möglich und verbessert die Lebensqualität sehr.

Im Laufe der Zeit führt die Anerkennung der eigenen Natur (denn das ist die Hochbegabung) zu mehr Selbstsicherheit und mehr Selbstvertrauen. Dadurch werden Entwicklungen in Gang gesetzt, die man vorher nicht für möglich gehalten hätte. 

Aber nicht nur für die Zufriedenheit der hochbegabten und hochsensiblen Menschen selbst, sondern auch für die Gesellschaft als Ganzes ist es gewinnbringend, die brach liegenden vielfältigen Fähigkeiten (auch wenn dies erst im Erwachsenenalter geschieht) zu entdecken, zu fördern und zu nutzen.

(1) Alfred Binet schuf 1905 einen ersten Intelligenztest und William Stern erfand 1912 den Intelligenzquotienten (IQ).

(2) z.B.: http://www.testedich.de/tests/iq-test.php3, http://www.focus.de/D/DB/DBV/DBV24_neu/DBV24C/DBV24C01/dbv24c01.htm

(3) Jürgen vom Scheidt: Das Drama der Hochbegabten. Zwischen Genie und Leistungsverweigerung, München 2005, Piper 

(4) Andrea Brackmann:  Ganz normal hochbegabt. Leben als hochbegabter Erwachsener, Stuttgart 2007, Klett-Cotta

(5) Ebenda: S.19

(6) Andrea Brackmann: Jenseits der Norm. Hochbegabt und hochsensibel, 5. Aufl. 2008, Klett- Cotta, S. 46/47

(7) Elaine N. Aron: Sind Sie hochsensibel? Wie Sie ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen. mvg Verlag, 6. Auflage 2010

(8) Dr. Jürgen vom Scheidt: Das Drama der Hochbegabten. Zwischen Genie und Leistungsverweigerung, München 2005, S. 20/21

(9) Der Begriff “Hochbegabung” wurde 1928 von William Stern (1871-1938) in die Psychologie eingeführt.

(10) Dr. Jürgen vom Scheidt: Heimlich begnadet, in: emotion, April 2008, S. 86

(11) Andrea Brackmann in emotion, April 2008, S.88